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Blutzoll und die Wunschzahl an Verkehrstoten
Nachtrag, mir sei erlaubt einen neuen Betirag zu verfassen, weil er nicht von mir ist, ich ihn aber sehr passend zum Thema finde (aus der NZZ):
Von Manfred Papst AM 8. NOVEMBER 1946 schrieb George Orwell in seiner Kolumne, die unter dem Titel «As I Please» in der Londoner «Tribune» erschien, einen Text über den Zusammenhang von Verkehrstoten und Geschwindigkeit. Er hatte gerade von einer leicht rückläufigen Unfallstatistik in Grossbritannien gelesen, blieb jedoch skeptisch. Unfälle, so argumentierte er, passieren, weil sich auf unzulänglichen und unübersichtlichen Strassen sowohl Fahrzeuge als auch Fussgänger mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten in allen Richtungen fortbewegen. Wollte man diesen Zustand grundlegend ändern, müsste man ganze Städte niederreissen und verkehrsgerecht wieder aufbauen. Da dies aber offensichtlich nicht möglich ist, kann man nichts anderes tun, als die Leute vorsichtiger zu machen. Es gäbe zwar, so immer noch Orwell, eine wirksame Massnahme, nämlich die drastische Senkung der Geschwindigkeit, beispielsweise auf zwölf Meilen pro Stunde innerorts. Aber dies, würde einem jedermann versichern, sei «unmöglich», will sagen unerträglich mühsam, unzumutbar. George Orwells Schluss lautet deshalb: «Wir schätzen Geschwindigkeit mehr als menschliches Leben. Warum sagen wir es dann nicht wenigstens, anstatt alle paar Jahre eine jener heuchlerischen Kampagnen abzuhalten, in voller Kenntnis der Tatsache, dass – solange unsere Strassen so bleiben, wie sie sind, und die heute geltenden Geschwindigkeiten beibehalten werden – das Blutbad weitergehen muss?» Erzählt wird das hier, weil der Kasus heute so aktuell ist wie damals, weil die Heuchelei, von der Orwell spricht, auch bei uns jeden Tag zu beobachten ist – und weil sie sich in der Sprache spiegelt. Sie spiegelt sich etwa darin, dass unsere Gazetten in einen altertümelnden Duktus verfallen, sobald sie von den Verkehrstoten reden, und dann von «Blutzoll» und ähnlichem Unfug schwadronieren. Auch der Begriff «Verkehrsopfer» und sein halbwegs humoriges Pendant «Verkehrssünder» lassen ja schon aufhorchen. Man opfert, weil man von einer höheren Macht etwas erfleht – freie Fahrt für freie Bürger? –, man sündigt und stiftet eine Kerze, man bezahlt Zoll, um ohne weitere Umstände an sein Ziel zu gelangen. Wie sehr wir uns an den Tod auf den Strassen gewöhnt haben und nur noch in stumpfer Routine von ihm sprechen, zeigen die Zeitungsberichte, in denen unlängst von der Schweizer Verkehrspolitik auf Bundesebene die Rede war. «Der Bund will bis 2010 die Zahl der Todesopfer auf Schweizer Strassen auf 300 halbieren», hiess es in verschiedenen Medienberichten. Man muss kein Karl Kraus sein, um diesen Satz obszön zu finden. Er hört sich an, als wären 300 Verkehrstote pro Jahr eine Zahl, mit der man recht gut leben kann, eine wenn auch nicht geradezu ideale, so doch vernünftige Grösse, ein Resultat der Kunst des Möglichen, die Leistung eines Verkehrstotenzahlhalbierungsministers. Vielleicht aber ist der Satz auch einfach im Orwell’schen Sinne ehrlich: Wir sind stolz auf unsere in Sachen Verkehrssicherheit europaweit führende Position und geben, wenn wir nicht zufällig persönlich betroffen sind, nicht mehr vor, in jedem Menschenleben, das durch den Strassenverkehr ausgelöscht wird, einen inkommensurablen Verlust zu beklagen. Ist die Sache also abgetan? Keineswegs. Denn Orwells Vorschlag zur Güte hatte ja einen doppelten Boden. Er ging davon aus, dass wir mit der Wahrheit, dass wir lieber töten als Zeit einbüssen, eigentlich nicht leben können. Wir können es offensichtlich aber doch – und müssen uns fragen, ob wir, frei nach Lessing, nur deshalb den Verstand nicht verlieren, weil wir keinen zu verlieren haben. |