| Raskolnikow |
30-07-2002 11:30 |
Kleiner Programmhinweis
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Zitat:
Das Medium schlägt zurück
Menschen im Bann der "Kriegsspiele" (ARD)
Nachdem der Todesschütze von Erfurt zum Schlagwort geronnen war für all das, was Computerspiele auch jenseits des Monitors anzurichten vermögen, überschlugen sich die Fernsehsender mit schockierenden Bildern. Den hektisch geschnittenen Reportagen wohnte zumeist die gespielte Atemlosigkeit des Sensationsjournalismus inne, damit nur der Terror möglichst realistisch aus den Bildern sprach.
Wie einseitig solche panikstiftenden Berichte waren, belegt nun der eindringliche Dokumentarfilm "Kriegsspiele" von Marcus Vetter. Der Regisseur begleitet fünf Jugendliche, die sich dem verrufenen Spiel "Counterstrike" verschrieben haben, ein blutiges Spektakel, in dem geschossen statt gesprochen wird. Die Dreharbeiten begannen im Januar, also noch vor der Bluttat in Erfurt, und endeten unmittelbar danach. Der Computermonitor wird hier zum Fluchtpunkt des Alltags, er ist die Pforte zu einer flächigen Parallelwelt. Die Menschen vor den Bildschirmen sind aber keine von der Gesellschaft geschnittenen Einzelgänger mit wunden Seelen, im Gegenteil. Sie agieren im Team, rufen einander Kommandos zu, um den anonymen Feind zur Strecke zu bringen. Eine Schar blasser Jungen ist hier am Werk, durchaus sympathisch und dennoch einem Kriegsspiel verfallen, das im Mai beinahe auf den Index jugendgefährdender Schriften geriet.
Marcus Vetter filmt seine Protagonisten vornehmlich im Profil, unnahbar wie auf Polizeifotos, läßt ihren flatternden Blick in eine vage Ferne zielen, als fürchte er das Frontalgespräch. Trefflich spielt er mit dem Klischee vom entrückten Tastatur-Desperado, dem man nicht zu nahe treten sollte. Aber die Computerkrieger, die sich Kunstnamen wie "Myth", "Der Gestörte" oder "Hellfire" für das Feuergefecht zugelegt haben, ergehen sich nicht in fanatischen Parolen, vielmehr ziehen sie ungefragt eine Grenze zwischen Realität und Fiktion. Aufgewachsen in intakten Familien, brüten sie in ihrer Freizeit über Strategieplänen für das nächste Gefecht. Allerdings zeigt der Film, daß die Jugendlichen daheim mit Fernsehbildern überschwemmt werden, weil sich auch das Weltbild der Eltern daraus speist.
Vetter verurteilt nicht, er will verstehen, was die Jugendlichen in den imaginären Kosmos treibt. Sein Dokumentarfilm erschließt das Thema gleichsam von innen, weil es anscheinend kein Draußen mehr gibt. Anstatt das Fenster zu öffnen, schaltet "Myth" den Computer ein, gesteht allerdings, daß er nicht der beste Kämpfer sei. Wenn die Kamera Zimmerpflanzen und Schallplatten wie Restpartikel der Wirklichkeit streift, um danach in den Sog des Monitors zu geraten, bezeugt sie den Spieltrieb eindrücklicher, als es Statistiken über die wachsende Zahl der "Counterstrike"-Fans vermögen. Der Film umkreist seinen Gegenstand, er sucht nicht die Hysterie an dessen Rändern, wo Unkundige den Werteverfall beklagen. Pierre, das Genie des Clans, hat sich vom Kriegspielen abgewandt und läßt sich nun als virtuelle Frau in Chatrooms umgarnen. Er hat die Schule verlassen, um fortan allein für den Computer zu leben. Und Vetter zeigt, daß diese Obsession ungleich verstörender ist als jedes "Counterstrike"-Gemetzel.
ALEXANDER BARTL
Heute um 23 Uhr im Ersten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.07.2002, Nr. 174 / Seite 428
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