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Alt 06-04-2004, 22:01
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Sagt, ob das eure Sehnsucht ist und dieses Glück sie stillt? O, niemand möchte da widersprechen und etwas anderes wollen; gleich Kindern würden alle zu hören glauben, was seit je ihr Sehnen war: mit dem Geliebten verwachsen und ein Wesen mit ihm bilden. Denn so war einst unsere alte Natur: wir waren einst ganz, und jene Begierde nach dem Ganzen ist Eros. Wir waren einst ein Wesen, und weil wir gefrevelt haben, sind wir vom Gotte gespalten worden, wie die Arkadier heute von den Lakedaimoniern. Und die Gefahr besteht fort, daß wir noch einmal gespalten werden, wenn wir nicht fromm gegen die Götter sind, und daß wir dann herumgehen wie die Reliefs auf den Grabsteinen mit zersägten Nasen. Damit wir nun diesem Schicksal entgehen und jenes andere Ziel erreichen, muß jeder Mensch den anderen heißen, die Götter ehren, und Eros ist uns zu jenem Ziele Führer. Ihm soll niemand zuwiderhandeln, und wer der Götter spottet, der handelt ihm zuwider. Nur als des Gotte Freunde und mit ihm versöhnt, werden wir, was heute nur wenigen gelingt, unsere echten Geliebten finden. Eryximachos soll sich hier über mich nicht lustig machen und meinen, ich denke jetzt an Pausanias und Agathon. Ja, vielleicht stammen diese beiden wirklich aus dem alten männlichen Geschlecht. Ich meine aber alle Männer und Weiber und behaupte, das Menschengeschlecht könne nur heil sein, wenn wir uns in der Liebe vollenden und jeder seinen eingeborenen Geliebten findet und so zur alten Natur zurückkehrt. Und wenn das unser Ziel ist, so muß, wie wir nun einmal sind, gut sein, was diesem zunächst kommt: unter allen den Geliebten finden, der uns versteht. Und wenn wir den Gott, dem wir das verdanken, preisen sollen, so müssen wir Eros preisen, denn wie kein anderer hilft er uns hier zu uns selbst und gibt uns die sicherste Hoffnung, wenn wir den Göttern unseren frommen Sinn bewahren, uns zu unserer alten Natur zurückzubringen und uns heil und selig zu machen.
Da hast du nun, Eryximachos, meine Rede auf Eros; sie war anders als deine. Ich bitte dich noch einmal darum, mach dich nicht über sie lustig, denn wir müssen noch die anderen Reden hören, eigentlich nur die Reden der beiden anderen, denn Agathon und Sokrates nur sind noch übrig!"

Platon: Das Gastmahl
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